Nina Bolders

Tokio Therapie

Kurzgeschichte

 

   Ein Stück Essen fliegt durch die Business Class und landet auf dem blauen Teppichboden. Ein älterer, japanischer Gast guckt erstaunt hinterher, Messer und Gabel in der Hand, seine Frau hält sich die Hand vors Gesicht und lacht leise. Ich eile herbei und reiche ihm ein paar Stäbchen, mit beiden Händen, wie sich das in Japan gehört. Hatte ich etwa vergessen, ihm die dazuzulegen? „Sumimasen“, sage ich. Sich entschuldigen passt in Japan immer, wurde mir beigebracht. Mit den japanischen Gästen muss man behutsam umgehen, schnell ist diese komplizierte Kultur von unserer westlichen Art irritiert. Auf dem Tisch des Gastes liegen bereits Stäbchen, aber er wollte wohl unbedingt seine Königsberger Klopse stilecht mit Messer und Gabel essen. Seine Frau lacht immer noch, tupft sich schon mit der Serviette Tränen vom Gesicht, er fängt auch wieder an zu lachen. „Gomen Nasai“, sagt er und sieht sich nach dem Kamikaze-Fleisch auf dem Teppich um, macht Anstalten, aufzustehen. Ich winke schnell ab und klaube das Zeug mit einer Serviette vom Teppich auf. Die beiden verneigen sich leicht und lächeln. Sind die süß, denke ich und hoffe, dass sie das wirklich lustig finden und hier niemand gerade sein Gesicht verliert. Die anderen Passagiere beobachten unauffällig, wie es hier zugeht, und amüsieren sich diskret. Glaube ich.

   Das Flugzeug ist ausgebucht, der Service nach Tokio ist anspruchsvoll. Miso-Süppchen aufgießen, grünen Tee zubereiten, absurd viele Folien auseinanderfieseln, eventuell abtrünnige Königsberger Klopse aufsammeln. Dann ist schließlich Pause. Die eine Hälfte der Crew zieht sich in den kleinen Schlafcontainer zurück und ruht sich aus. Die andere Hälfte betreut die Passagiere, die in der Business Class inzwischen alle schlafen. Viele japanische Gäste tragen Schutzmasken über Mund und Nase und haben sich weiße Einmal-Hausschuhe mitgebracht.

   Max kommt in die Business-Class-Küche getänzelt, zieht den Vorhang hinter sich zu und inspiziert die Öfen nach übriggebliebenem Essen. Ich sitze auf meinem Klappsitz neben der Flugzeugtür und krame gähnend in meiner Tasche nach meinem Fleckenkillerstift. Ich will gar nicht wissen, wie spät es bei uns ist.  

   Max ist fündig geworden, er zieht eine der Boxen mit leeren Gläsern aus dem Regal und nimmt darauf Platz, mit einem Tablett auf dem Schoß. „Na, was ist eigentlich aus deinem Typen geworden, warst du nicht so wahnsinnig verliebt?“, fragt er und zieht die Alufolie vom Teller. Königsberger Klopse.

   „Hm-hm“, knurre ich leise.

   „Wo war der nochmal?“

   „In Denver.“  Ich killere mit dem Stift auf meinem weißen Ärmel herum. Das Zeug riecht fies und suppt durch den Stoff auf meinen Arm. Aber die Rotweinflecken werden tatsächlich heller und bläulich.

   „Ach du Scheiße, die Strecke fliegen wir doch jetzt gar nicht mehr“, Max schaut mich mit großen Augen an. 

   „Hm-hm“, wiederhole ich und knirsche mit den Zähnen.

   Er seufzt. „Ach, ist ja wie damals mit Riley. In San Francisco. Wie lange ist das jetzt her? Schon fast zehn Jahre! Ich war so verliebt in den, und immer ging alles schief, Wetterchaos, Dienstplanänderungen, Flieger kaputt, das war ein einziges Desaster. Und immer saß ich nur alleine zu Hause! Bin fast wahnsinnig geworden!“

   „Hm-hm.“ Ich lasse den Stift sinken und sehe ihn erwartungsvoll an.   „Und dann?“

   „Dann kam 09/11“, erzählt Max weiter, „und der Branche ging es schlecht. Ich habe unbezahlten Urlaub genommen, mir ein Work Visum besorgt und bin nach San Francisco geflogen. Und als ich da ankomme, erzählt der mir, dass er jemand anders kennengelernt hat. Ich dachte, ich spinne. Ich habe natürlich trotzdem erst mal bei ihm gewohnt, wo sollte ich denn hin, und der ist echt mitten in der Nacht noch zu dem anderen Typen gefahren!“

   „Was für ein Albtraum! Was hast du denn dann gemacht?“

   „Erstmal zwei Schachteln Zigaretten geraucht.“

   „Das hat bestimmt geholfen“, mutmaße ich.

   „Naja, San Francisco hat geholfen. War ja schließlich San Francisco. Und wie viele Typen habe ich dann noch kennengelernt, und jetzt habe ich meinen Torben!“ Er lächelt und streut Salz und Pfeffer über sein Essen. „Du, und wir gehen nachher Karaoke singen, oder?“

   Ich lache und halte das für einen Witz. 

 

   Es ist drei Uhr morgens. Ich wälze mich in meinem Hotelbett herum. Es ist zu warm. Ich schiebe die Decke weg. Ohne Decke ist es zu kalt. Ich setze mich auf und trinke meine Wasserflasche halb leer. Unangenehm anmutende Bruchstücke vom Karaoke tauchen auf, mit unübersichtlich viel Bier und überraschend unsozialem Verhalten meinerseits, was das Mikrofon betrifft. Ich glaube, es war ganz lustig, abgesehen von meiner Superidee, „Creep“ von Radiohead darzubieten. Dass meine Kollegen den Song anscheinend nicht kannten, half auch nicht. Unser verqualmtes Kabuff war plötzlich fast leer: Sie hatten die Gelegenheit genutzt, um den ehrenwerten Händewaschplatz aufzusuchen, wie man in Japan so schön sagt. 

   Der Einbauschrank knirscht. Kommt jetzt ein Erdbeben? Letztes Mal war das so. Ich liege und warte ab. Offenbar nicht. Dafür knurrt mir der Magen. Zuhause wäre es jetzt wahrscheinlich Zeit fürs Abendessen. Durch das zwei Zentimeter weit geöffnete Fenster höre ich Regen prasseln. Nicht nachdenken, sage ich mir, aber es ist zu spät, ich bin plötzlich irgendwo in Denver, als wir vor dem Regen in dein Auto flüchteten. Gerade als wir die Türen hinter uns zuschlugen, ergoss sich draußen eine Sintflut über den Wagen, dass die Scheiben blind wurden. Erleichtert sahen wir uns an und strichen uns die nassen Haare aus dem Gesicht. Lächelten verlegen, wie immer, wenn wir uns ein paar Sekunden zu lange in die Augen schauten. Die Regentropfen trommelten aufs Autodach und strömten an den Scheiben herunter und ich dachte, um zuhause zu sein, braucht man manchmal nichts außer diesem einen Menschen.

   

Mittags reißt mich das Telefon aus dem Koma und Max scheucht mich auf, erzählt was von Suppe essen und Tempel gucken, und bevor ich weiß wie mir geschieht, laufen wir im Bahnhof herum, zwischen Unmengen geschäftiger Japaner, für die schon der halbe Tag vorbei ist, und Max singt „Leaving on a Jet Plane“ vor sich hin, seinen Karaoke-Beitrag von gestern, und dann sitzen wir in einem Nudelsuppenladen.

   „Halt“, schreit Max, als ich das Papier von den Stäbchen reiße und mich über meine Suppe hermachen will, und springt mit seinem Handy um den Tisch. Er probiert diverse Perspektiven aus, dann fällt ihm ein, dass er mit aufs Bild muss, und er spannt die beiden japanischen Geschäftsmänner am Nebentisch ein, um ein Foto zu machen. Diese legen ihre Stäbchen weg und nehmen ihren Auftrag sehr ernst, irgendetwas funktioniert aber nicht wie gewünscht, so dass Max wieder aufsteht und anfängt, sich der Sache anzunehmen. 

   Meine Augen kleben hungrig an den dampfenden Udon-Nudeln, den hauchdünn geschnittenen Frühlingszwiebeln und den gerösteten Sesamkörnern, und ich trommele mit den Stäbchen auf dem Tisch herum. Facebook hat einige Monster geschaffen.

   „Max“, schreie ich schließlich, „mir ist schon ganz schwarz vor Augen.“

   „Ich poste dir das Foto“, antwortet Max und lächelt entschuldigend. „Und du siehst wunderhübsch aus mit deinem Mützchen und deiner Nudelsuppe. Das kannst du als Profilfoto nehmen.“

   Ich greife mit den Stäbchen ein paar Nudeln, aber sie flutschen zurück in die Suppe und diese spritzt mir ins Auge. Max lacht, und dann passiert ihm das gleiche. „Wir Weltbürger“, schmunzelt er. Wir versuchen verstohlen, bei den Japanern um uns herum abzugucken. Sie schaufeln die Nudeln zum Mund und saugen sie dann ein. Dann schlürfen sie die Suppe aus der Schüssel. So funktioniert es tatsächlich auch bei uns.

   Wir fahren mit der U-Bahn nach Asakusa, wo es einen buddhistischen Tempel und einen Shinto-Schrein gibt. Man kann auch Schicksalsröllchen kaufen. Kann ja nur besser werden, denke ich, als ich hundert Yen einwerfe und die Nummer meines Schicksals mit Hilfe eines Holzdings ermittele. Neugierig lese ich die englische Übersetzung unter den japanischen Schriftzeichen. Da steht etwas wie:

   „Schlimmes Schicksal, dein Wunsch wird nie in Erfüllung gehen. Du wirst immer verlieren, was dir am meisten bedeutet, wegen schlechter Kommunikation.“

   Ich muss ausgesehen haben, als würde ich gleich in Ohnmacht fallen.

   „Das macht nichts“, behauptet Max, legt den Arm um mich und zeigt auf ein riesiges Holzgebilde, an dem viele kleine Zettel befestigt sind. „Du musst den Zettel dort festmachen, dann kümmern die sich darum …“

   „Die?“ frage ich.

   „Die Götter. Oder guten Geister. Oder an was die hier glauben.“ Er lächelt kokett.

   „Sehr überzeugend, dein Fachwissen“, sage ich und befestige das Zettelchen an dem Holzgebilde. Kann man ja mal versuchen. Mit nach Berlin nehmen und an den Kühlschrank hängen will ich es mit Sicherheit nicht. 

   Auf dem Rückweg trällert Max mir wieder seinen Ohrwurm vor und ich denke an das Hotelzimmer in Denver mit seinem rot-goldenen Marriott Textilien. 

   Wir lagen auf dem Bett und starrten einander an, die Uhr tickte. In 20 Minuten musste ich mit Koffern in der Lobby stehen und in den Crewbus zum Denver International Airport steigen. Zum letzten Mal. 

   „Ist der Flug voll?“

   „Ja.“

   „Bestimmt anstrengend.“

   „Ja.“

   Stille.

   „Sind in Berlin in nächster Zeit coole Konzerte?“, wolltest du dann wissen.

   „Ja. Death Cab for Cutie spielen nächste Woche.“

   „Cool. Da solltest du deine Brille tragen, sonst lassen sie dich vielleicht nicht rein“, meintest du.

   Ich lächelte und sagte: „Und ich brauche einen Jutebeutel, auf dem so was steht wie: Bitte nicht schubsen ich habe einen Joghurt in der Tasche. Oder: Kein Bock, aber Gästeliste.“

   „Was?“, meintest du verstört. In den Staaten hat es sich wohl noch nicht durchgesetzt, mit beschriftetem Jutebeutel zum Konzert zu gehen.

   „In Berlin ist das ein Must-Have“, behauptete ich.

   Du hast gelacht, und dann noch erklärt: „Das ist witzig.“ Und darüber habe ich dann gelacht. 

   Etwas später stand ich am Fenster, dachte, ich könnte zugucken, wie du in dein Auto steigst, noch ein letztes Bild mit nach Hause zu nehmen, aber ich konnte es von dort aus nicht sehen. 

 

   In einem Mini-Mart am Bahnhof Kaihin-Makuhari kaufe ich mir noch Tofutaschen mit denen ich auf dem Hotelbett mit Blick auf die umliegenden Wolkenkratzer picknicke. Ich schalte den Fernseher ein und sehe zu, wie ein paar Japaner in historischen Kostümen in einer total überzeugenden Studiokulisse Holz hacken und eine aufgeregte junge Geisha angelaufen kommt, um ihnen wortreich etwas zu erzählen, woraufhin alle ins Haus rennen um irgendeinem Typen beim Essen zuzusehen.

 

   Ich verrühre die Sojasoße mit Wasabi, um die Tofutaschen in die Tunke zu tauchen. Beim dritten Versuch schaffe ich es, diese mit den Stäbchen so zu halten dass nicht der halbe Reis herausfällt. Ich hebe die Tofutasche noch ein bisschen höher. Es hält, stelle ich fest. Es hält.


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