Nina Bolders

 Die Pantoffeltiere fraßen Wassermelone

Kurzgeschichte

 

Meine beiden Koffer, der Große und der Kleine, liegen aufgeklappt auf dem Treppenhausboden vor meiner Wohnungstür. Ich kippe den Inhalt meiner Handtasche auch noch hinein und wühle in Briefingunterlagen, Uniformteilen und Strumpfhosen herum. Meine neuen Schätze sind auch alle da, die kleine rosa Tüte mit dem Nachthemd von Victoria’s Secret, die gesunden Süßigkeiten von Whole Foods und das Buch „Zen for Dummies“. Aber das vertraute Klimpern meines Schlüssels bleibt aus. Mir wird schlecht. Ich habe Hunger. Es ist Samstagnachmittag und ich muss auch noch einkaufen! Ich will Tofurührei. Darauf freue ich mich schon seit Tagen. 

 

Ratlos lasse ich mich auf die Treppenstufen sinken. Scheiße. Mein Schlüssel ist wirklich weg. Ich bin entsetzlich müde. „Ich hasse mein Leben“, knurre ich. 

 

Die gegenüberliegende Wohnungstür öffnet sich und das Pärchen, das dort vor einiger Zeit eingezogen ist, blickt verwundert auf das Bild, das sich im Treppenhaus bietet.

„Ich habe meinen Schlüssel verloren“, jammere ich.

„Willst Du vielleicht erst mal reinkommen?“ fragt sie.

Ich schleife meine offenen Koffer durch die Tür ins Wohnzimmer. 

„Vielen Dank.“

 

Bisher haben wir uns nur im Treppenhaus gegrüßt oder Päckchen füreinander entgegengenommen. Einmal habe ich mir einen Dosenöffner ausgeliehen, um eine Dose Kokosmilch zu öffnen.

Wie anders die Wohnung aussieht als meine. Sie haben Parkettboden mit Orient-Teppichen, antike Möbel und sehr viele verschiedene Pflanzen. Ein Orangenbäumchen. Eine Geigenfeige. Grünlilien. Ich mag Pflanzen. An den Wänden hängen Kunstdrucke in Bilderrahmen. Es gibt viele verschiedene Farbtöne. 

Sie breitet eine blaue Decke auf dem Orient-Teppich aus, damit ich dort mein Zeugs durchwühlen kann. Ich krame zum dritten Mal in meiner Uniformtasche, obwohl der Schlüssel dort nicht drin sein kann, und ein Päckchen mit den roten Zollplomben, mit denen wir im Flugzeug vor der Landung die Boxen verschließen, geht auf. Die Dinger verteilen sich über den gesamten Inhalt meiner Koffer. Toll.

„Kommst Du von weit her?“ fragt sie.

„Aus Washington“, erkläre ich und unterdrücke ein Gähnen. 

„Möchtest Du einen Tee?“ fragt sie.

„Nein, danke“. Ich lächele routiniert. Das kann ich gut. Aber ich möchte keinen Tee. Ich möchte meinen Schlüssel, meine Dusche, mein Tofurührei und mein Bett. Vor allem mein Bett.

„Sicher, dass du ihn dabei hattest“, fragt er.

„Ja, vorhin hatte ich ihn noch.“ Vorhin, das war in München, als ich mich umgezogen und meine Sachen umgepackt habe. Wenn man standby fliegt, kommt es nämlich manchmal vor, dass der aufgegebene Koffer nicht mitkommt. Bei Lost & Found am Flughafen Tegel kennt man mich schon. Wenn das passiert, wird er einem am nächsten Tag nach Hause gebracht, was ganz ok ist, dann brauche ich ihn wenigstens nicht durch Berlin zu schleppen, die ganzen kaputten Rolltreppen hoch und runter, und im Kopf dabei bitterböse Beschwerdebriefe an die BVG zu verfassen. Die wichtigsten Sachen habe ich deswegen immer in der Handtasche. Auch vorhin habe ich darauf geachtet. In München war der Schlüssel definitiv noch da.

Er steht im Türrahmen und betrachtet nachdenklich das Durcheinander.

„Und wie bist du unten ins Haus gekommen?“ fragt er plötzlich. Ich lasse erschrocken die Tasche fallen. Unten ins Haus gekommen? Ich springe auf, rase die Treppe hinunter, reiße die Haustür auf und da steckt er. Unschuldig baumelt eine kleine Winkekatze mit einem Glöckchen daran. Kopfschüttelnd ziehe ich ihn aus dem Schloss. „Nach müde kommt halt doof“, erkläre ich meinen Nachbarn und bringe mein Gepäck in meine Wohnung.

 

Bei mir sieht es aus wie in einem japanischen Hotelzimmer. Teppichboden, Vorhänge, Bettzeug und Wände sind cremefarben, meine Möbel sind kompakt und schwarzbraun. Ein künstlicher Bambus ist meine einzige Pflanze, außer wenn ich mir aus Singapur Orchideen mitbringe. Es riecht künstlich nach Zitronengras. In der Küche gibt es einen großen japanischen Kalender, mit Fotos von Stofftieren, die wie Pantoffeln aussehen. Diesen Monat sitzen sie mit Schal und Mütze zwischen verfärbtem Laub. Als die Pantoffeltiere das Kirschblütenfest gefeiert haben war ich noch der glücklichste Mensch der Welt.

 

Du hast dir den ganzen Kalender angesehen, dann die Augenbrauen hochgezogen und auf mein Lieblingsbild gezeigt. Die Pantoffeltiere sitzen im Sand, vor ihnen angefressene Wassermelonenstücke. 

"What the hell...?"

"Imagine a grown up person arranging them like this and taking pictures of them”, habe ich mein Souvenir aus Tokio verteidigt. Ich stelle mir immer erwachsene Japaner mit Krawatte vor, die mit hochkonzentriertem Gesichtsausdruck die angefressenen Melonenstücke vor den Stofftieren im Sand hin- und herschieben, wobei sie sich ausgiebig beratschlagen, im Schlepptau eine ganze Armada von Lampen und Objektiven, und Glyzerinspray, damit die Wassermelone schön glänzt. 

Du hast mich angelächelt.

"I imagine a grown up person buying that...", hast du dann gesagt, und mich an dich gezogen und so gut gerochen.

 

Ich gehe schnell in den Bioladen und hole Brot, Lauchzwiebeln, Karotten, getrocknete Tomaten und Tofu. Zu Hause werfe ich meine Stiefel irgendwohin und gieße mir ein Glas Rotwein ein, das ich herunterstürze, während ich den Tofu zerbrösele und in der Pfanne in Kurkuma und Paprikapulver wälze, damit er wie Rührei aussieht. Früher hätte ich nie nachmittags alleine zuhause Alkohol getrunken. 

 

Ich denke an meine Nachbarn. Einer breitet eine Decke aus für meine Sachen und bietet mir einen Tee an, einer analysiert die Situation. Zusammen finden sie eine Lösung für das Problem „aufgelöste Stewardess vor der Wohnungstür“. Erde und Wasser, so wie wir es waren in der wenigen Zeit, die wir zusammen hatten. Ich denke an Dein Zimmer, mit dem cremefarbenen Teppichboden, den schwarzbraunen Möbeln und dem beigen halslosen Hund, der in dem Bungalow herumlief. Er sah aus wie ein Brot. Damals dachte ich, das könnte auch ein Zimmer in meiner Wohnung sein, außer dass man dann aus dem Fenster nicht die Rocky Mountains sehen würde, sondern die bekrakelte Kreuzberger U-Bahn-Brücke. Ich sehe Dich durch meine Wohnung laufen und Dich umsehen und höre Dich sagen „I love your apartment.“ Ich bin sicher, heimlich gefiel Dir auch mein Pantoffeltier-Kalender. So wie mir das riesige alberne Totenkopftattoo auf deinem Rücken. Ich setze mich langsam auf einen Küchenstuhl, ziehe die Knie an und starre in die Luft.


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