Und ich denke, dass ich ein Bonbon bin

Cutdown

 

... „Weißt du, warum es so weh tut?“ Und du hast natürlich keine Antwort erwartet. Ich habe trotzdem den Kopf leicht geschüttelt.

„Das ist der Schmerz, denn er zurück lässt. Den er euch geben muss, damit er frei sein kann. Damit seine Seele fliegen kann.“ Nie zuvor hat mir das jemand verraten und ich wusste sofort, dass du recht hast ...

 

... Meine Mutter lauschte und ich begriff irgendwann, dass dies meine letzten Stunden mit ihm waren. Deswegen hat sie mich hergeholt, weil sie es wusste, wie sie es immer weiß, wenn etwas passiert. Als sie kurz den Raum verließ, beugte ich mich trotzdem nah an sein Ohr. Die Zähne, die er noch hatte, waren grau und schwarz und rochen faulig, weil sich keiner mehr die Mühe machte, sie zu putzen. Fassungslos hatte ich sie zuvor schon angestarrt und mich gefragt, ob er Schmerzen hatte und wann man ihm seine Würde eigentlich ausgezogen und an den Nagel gehängt hatte.

„Lass los,“ flüsterte ich ihm zu, auch wenn ich wusste, dass ich nicht die Erste war, die ihn dazu aufforderte. Aber ich wollte sicher gehen, dass er es in dieser Nacht schaffen würde, und war ein bisschen stolz, dass es ihm dann endlich gelang ...

 

... Und an dich gewandt sage ich, dass ein Bonbon, egal wie süß es schmeckt, am Ende ja sowieso immer diesen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Doch du winkst ab, grinst, und findest, dass man sich dann ja einfach ein Neues in den Mund stecken kann. Mein Stirnrunzeln ignorierst du. Verstohlen blicke ich zu dir hin. Du trägst die Einkaufstüte, hast den Schlüssel und mein Herz. Würdest du mir verloren gehen, müsste ich verhungern, hätte kein Dach mehr über meinem haltlosen Kopf und ein Loch in der Brust. Und ich denke, dass ich ein Bonbon bin, das irgendwann zu Ende gelutscht ist. Sehe dich nochmals an, stirnrunzelnd, und frage, ob du Bonbons auch zerbeißt. Doch du lachst nur, schwingst den freien Arm um meine Hüfte, küsst mir das Runzeln von der Stirn und willst wissen, was wir zu Abend essen sollen ...

 

... Ich schaue hinüber, auf die andere Seite des Tals zu den Wiesen mit den Brombeerhecken. Und plötzlich tritt er dazwischen hervor, mit dem Hut auf dem Kopf und seinem Stock in der Hand. Natürlich trägt er Hosenträger über dem Hemd, das hat er immer getan. Und er lächelt zu mir herüber, lächelt richtig, sosehr, wie ich es noch nie gesehen habe. Dann drückt er sich ab, kraftvoll mit dem Stock und den Beinen und schwebt davon, zusammen mit den Spatzen, ich sehe es genau, auf und davon. Als ich meinen Strauß Vergissmeinnicht in das Grab werfe, lächle ich immer noch, weil ich weiß, dass er gar nicht dort unten liegt, weil wir seine Last tragen, und er schweben kann, hoch oben. Und dann frage ich mich wieder, ob nicht das ganze Leben ein Glas voller Bonbons ist. Süß, mit einem Brausekern, der explodiert und uns den bitteren Nachgeschmack vergessen lässt. Solange, bis das Glas leer ist und wir warten müssen, bis etwas Neues kommt, etwas Größeres und Leichteres. Etwas das nicht nur im Mund explodiert, sondern überall und das uns zerstäubt wie Brause, sodass der Wind uns mit sich nehmen kann ...

 


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