Katharina Schmidt
SÜDDEUTSCHE JUGENDMEISTERSCHAFT SYNCHRONSCHWIMMEN
Ruhig liegt das Wasser im 25-Meter-Becken, nur hin und wieder ein Gurgeln und Schmatzen aus den Tiefen der Ablaufrinne.
Als erstes, wie immer als erstes, betritt der alte Helmut die Schwimmhalle. In weißen Rentner-Plastiklatschen, nudefarbenen Adidas-Shorts und grauem Speedo-Poloshirt, schlurft er krummen Rückens in die hinterste Ecke. Auf einem Wägelchen zieht er drei große Plastikkisten hinter sich her. Unterm Arm der zusammengeklappte Stand inklusive Sponsoren-Sonnenschirm. Wie immer hat er bereits im Vorfeld den Schlüssel für die kleine Glastür, die es in jeder Halle gibt, organisiert und öffnet sie jetzt. Er präpariert den Schnapper, trägt einen der umherstehenden weißen Plastikstühle hinaus, setzt sich und raucht in aller Ruhe eine Zigarette.
Frau Kuttelmann, eine resolute Frau von 120 Kilo in offiziellem Vereins-T-Shirt und lilafarbenen Riesenshorts, führt den Tross Mütter und Helferinnen an. Sie ist die leitende Trainerin des ausrichtenden Tuspo Brambach und will, dass diese Süddeutschen Altersklassenmeisterschaften allen in guter Erinnerung bleiben.
Auf dem Parkplatz vor der Schwimmhalle trudeln nach und nach Autos aus ganz Süddeutschland ein. Der nagelneue Vereinsbus der Main-Nixen kommt nach umständlichem Rangieren knapp neben den Mülleimern zu stehen. Wild gestikulierend macht sich die Fahrerin gegenüber einer offenbar feixenden Meute junger Mädchen im Fond des Busses Luft, während der Polo mit den getönten Scheiben der Bundestrainerin schnittig angefahren kommt. Die C-Mädchen des 1. SC Mannheim steigen aus einem Großraumtaxi, rhythmisch hupend entlässt ein Geländewagen mit Frankfurter Kennzeichnen fünf schmale Schwimmerin in blau-weißen Trainingsanzügen.
Samstag ist Pflichtwettkampf. Jedes Mädchen muss vier vorgeschriebene Übungen vor den Wertungsgerichten absolvieren. So langsam und gleichmäßig wie möglich. Die am Vorabend ausgeloste Gruppe 5 hat den höchsten Schwierigkeitsgrad von allen. Kein einziges Spagat kommt vor, die Beweglichen ärgern sich, die Technikerinnen scheinen im Vorteil. Mördergruppe 5. Vanessa Vogel vom Nürnberger SC hat sich heute früh schon drei Mal vor Angst übergeben. Auch den Kampfrichterinnen in ihrer weißen Kleidung graut es vor einem langen Tag.
Das Einschwimmen ist mit fünfundvierzig Minuten knapp bemessen. Außerdem ist das Becken für eine Teilnehmerzahl von 57 Schwimmerinnen zu klein. Mädchenbeine ragen in unterschiedlichen Winkeln aus dem Wasser, strenge Blicke der Trainerinnen, Vereinskammeradinnen und Konkurrentinnen auf sie geheftet.
Ein Fiepen zerschneidet die Luft und wenig später erschallt die Stimme der Oberkampfrichterin. Die Wertungsrichter möchten sich jetzt bitte einfinden.
Am rechten und linken Seitenrand die beiden Kampfgerichte. Je fünf Richterinnen auf Plastikstühlen, die kleinen Wertungstafeln in den Händen. Fünf, sechs Schwimmerinnen warten in einer Schlange vor dem Einstieg, die ersten stehen schon im Wasser an der Abflussrinne entlang aufgereiht. Alle tragen uniform schwarze, schlicht geschnittene Badeanzüge sowie weiße Badekappen unter der Schwimmbrille. Der alte Helmuth hat heute ein mäßiges Geschäft gemacht. Sieben Nasenklammern, drei Kappen und eine Brille.
Ein schriller Pfiff eröffnet den Wettkampf. Auf beiden Seiten schwimmt das erste Mädchen in einem Halbkreis vor die Wertungsrichterinnen und legt sich langsam aufs Wasser.
Die Bundestrainerin der Jugendmannschaft ist anwesend. Immer die schwarze Sonnenbrille im Gesicht hält sie sich stets im Hintergrund und sieht doch alles. Flüstert das Bemerkenswerte ihrer Assistentin ins Ohr, die es umgehend aufschreibt. Für die Kaderathletinnen geht es um die Nominierung zur Jugendweltmeisterschaft in Japan. Der Nachwuchs will sich für einen Platz im Team empfehlen.
Insgesamt verläuft die Pflicht durchwachsen. Die Wertungen sind in Kampfgericht 1 durchweg zu niedrig, nur selten kommt eine hohe 7. Kampfgericht 2 wertet höher, hier macht dafür Frau Blodau aus Mannheim Probleme, die nach jeder Wertung einen Schluck Klaren aus ihrer Tasse nimmt und immer die Streichwertung beisteuert. Der Schiedsrichterin entgeht es nicht, doch so lange sie nicht von ihrem Stuhl ins Wasser fällt
– wie dereinst Emmy Luba – oder im Vorfeld ein Spickzettel auftaucht, von dem die zu vergebenden Wertungen nur abgelesen werden – wie bei der legendären Frau Mauser – muss die Blodau nichts fürchten.
Miriam Schuster schwimmt den mit Abstand besten Wettkampf. Sie steht am höchsten im Wasser, dreht im Handstand gut sieben Zentimeter über Knie, platziert den Barracuda kerzengerade, die Schraube akkurat am Platz. Die arme Tatjana ist direkt hinter ihr dran und so verunsichert, dass sie ihre Übung total verhaut. Ihr Heulen dringt aus der Dusche durch die ganze Halle. Die Schiedsrichterin muss zur Ruhe mahnen.
Nach fünf langen Stunden endlich der erlösende Pfiff und der Pflichtwettkampf ist beendet.
Schon zehn Minuten später trägt Herr Kuttelmann acht ausgedruckte DIN A 4 Seiten durch die Halle. Pinnt die Zettel umständlich an die Ergebniswand der Schnellschwimmer. Zu hoch, als dass die kleine Monika sich darauf finden könnte. Die großen Mädchen, die jetzt aus der Dusche strömen, Schaum in den Haaren und mit den Badeschlappen klackernd, drängen sie zur Seite.
Carolin Hartmann hatte sich mehr erhofft. Viel mehr. Als ihre Trainerin vor den ausgehängten Ergebniszetteln steht, ist es schon zu spät. Carolin verschwunden. Später wird ein frischer Schnitt desinfiziert und verarztet werden müssen. Aus Japan wird nichts werden.
Monika strahlt. Sie ist sechsundvierzigste geworden.
Die Kürwettkämpfe am Sonntag sind publikumsfreundlicher.
Die Anlage steht, der Unterwasserlautsprecher hängt, der Testlauf hat geklappt und ab jetzt wird eine Kürmusik die nächste jagen. Erst kommen die Solistinnen, dann die Duette und zum Abschluss die Gruppen.
Besonders beliebt bei den Jüngeren ist die Filmmusik vom König der Löwen. Die Älteren greifen nach wie vor gerne auf Synchro-Klassiker wie Das Boot, Cats oder Instrumentelles von Jean-Michelle Jarre zurück. Unter den Solistinnen befinden sich auch dieses Jahr wieder zwei Carmens.
Kopfschütteln verursacht die Musikauswahl für die begabte Nachwuchsschwimmerin des Polizeisportvereins Rüsselsheim. Sie ist nach der Pflicht 12. und wird von der Bundestrainerin intensiv beobachtet. Doch als sie an den Start tritt erklingt ein schrecklich abgemischtes, leicht leierndes Potpourri von Phil Collins Songs. Zwar schwimmt sie ihre hübsch choreographierte Kür ausdrucksstark und kraftvoll, doch durch die Musik wirkt alles peinlich. Die Assistentin der Bundestrainerin bekommt ein einziges Wort diktiert. „Trainerinnenwechsel!“
Bei den Duetten gibt es eine Überraschung. Köhler/Lenz aus München, erstes Duett der Jugendnationalmannschaft, so gut wie gesetzt für Japan, werden nur zweite. Michels/Michels aus Neuburg legen eine Wahnsinns-Kür hin. Die neue ukrainische Trainerin zahlt sich aus. Sie sind synchron bis in die Finger- und Fußspitzen, genetisch bedingt sitzt auch Lächeln an exakt gleicher Stelle. Und die krummen Knie hat Irina Spassova ihnen auch ausgetrieben. Die Bundestrainerin wird ein unbequemes Gespräch mit allen Beteiligten führen müssen.
Zum Knaller des Tages avancieren Bettina und Sandra aus Bad Soden in ihren blassrosa Anzügen mit Mäuseprint. Schon der Aufmarsch ist ganz unsynchron und bei der Landbewegung verhaken sich ihre Haarkrönchen. Eine der beiden rutscht aus und plumpst ins Wasser, wo es die nächsten drei Minuten so weiter geht. Schließlich streiten sich die zwei bei laufender Kürmusik, wer falsch und wer richtig zählt. Die Halle kichert, nur die beiden Mütter stehen unter dem Sprungturm, klatschen engagiert mit und fallen sich nach dem Schlussakkord in die Arme.
Und endlich das Abschlusstraining der Gruppen. Trainerinnen werfen mit Badeschlappen nach Mädchenbeinen, zwei Ersatzschwimmerinnen klopfen je einen Takt und bringen damit alle aus dem Konzept. Irgendwie ist ein Hund in die Halle geraten. Und als wäre das nicht genug, sucht Frau Eisinger die Auseinandersetzung mit dem alten Helmuth. Sein Zigarettenrauch ziehe herein. Ein Unding, dass er hier rauche! Demonstrativ versucht sie die kleine Glastür zu schließen, doch sie scheitert am präparierten Schnapper.
Großes Gewimmel, alle putzen sich für den Auftritt raus. Bunte, mit Pailletten bestickte Badeanzüge funkeln in der Halle. Dick tragen sich die Mädchen wasserabweisende Schminke auf. Dann die unvermeidliche Gelantine-Prozedur, um die Haare an den Kopf zu kleben. Nur wenige Mütter beherrschen die Kunst des Gelantineanrührens so gut wie Frau Schäfer von den Main-Nixen. Konsistenz und Temperatur stimmen bei ihr immer, nie gibt es Klümpchen, nie musste sie aus der Not heraus Wurstwasser verwenden, das danach kompromittierend stank.
Wieder ist es die Schiedsrichterin, die durch einen Schrillen Pfiff Ordnung schafft. Ihrer Ansage folgend versammeln sich alle Beteiligten fein säuberlich nach Vereinen geordnet rund um den Beckenrand. Gedanklich sind die meisten schon beim Gruppenwettkampf, doch die Rede des Brambacher Bürgermeisters gilt es noch auszuhalten. Schwitzend steht er in seinem bordeauxfarbenen Anzug hinterm Mikrofon, Plastiktüten über den Lederschuhen und immer die selbe ausladende Geste machend. Spricht das unvermeidliche „so viele hübsche Mädchenbeine hat Brambach selten gesehen“. Die Jüngeren kichern, die Älteren verdrehen die Augen, aber alle klatschen brav, als er fertig ist.
Nach dem Ausmarsch werden eilig Trainingsanzüge in Ecken gepfeffert, Lippenstifte nachgezogen und Ersatznasenklammern bei Helmuth gekauft. Man kramt in den riesigen Taschen, verdrückt heimlich ein Stück Kuchen oder befördert es mit Hilfe des Zeigefingers wieder heraus. Alexandra Petschke hat vergessen, sich die Achselhaare zu rasieren und verpasst fast ihren Auftritt. Irgendwer hat einen blutigen Tampon auf den Duschboden geschmissen.
Die Stimmung während des Gruppenwettbewerbs ist super. Nach der dritten Gruppe klatschen alle durchweg mit. Der Bundestrainerin gefallen die kreativen Hebefiguren: Da werden Mädchen durch die Luft katapultiert, kerzengerade aus dem Wasser gehoben oder im Spagat sitzend rundenlang gedreht.
Direkt im Anschluss die Siegerehrungen. Der Bürgermeister verteilt Pokale, Medaillen und Urkunden, mittlerweile ohne Sakko, dafür mit tellergroßen Schweißflecken. Miriam Schuster fehlt auf dem Podest ganz oben, sie musste schon zum Flieger nach Rom, zu den Italian Open. Stellvertretend nimmt Miriams kleine Schwester den Pokal entgegen, was alle, bis auf die Zweit- und Drittplatzierte süß finden.
Die Gratulation zwischen Köhler/Lenz und Michels/Michels fällt etwas biestig aus.
Schließlich quillt das Podest über, als die Gruppen geehrt werden. Das Händeschütteln nimmt kein Ende. Der alte Helmuth packt ein und schlurft aus der Halle.
Nach und nach verschwinden die pferdegroßen Taschen. Die Technik ist erst halb abgebaut, als schon die ersten Vereinsbusse todmüde Mädchen einladen. Eine Putzkolonne kommt mit Rollwagen bewaffnet herein und beseitigt alle Spuren. Herr Kuttelmann nimmt seine Frau in den Arm und schwört, dass er diesen Zirkus nicht mehr lange mitmacht.
Ruhig liegt das Wasser im 25-Meter-Becken, nur hin und wieder ein Gurgeln und Schmatzen aus den Tiefen der Ablaufrinne.