Judith H. Strohm
Da fällt herab ein Träumelein
Schlaf, Kindlein, schlaf.
Das singe ich meinem Kindchen immer. Jeden Abend singe ich ihm das. Denn mein Kindchen soll schön schlafen, friedlich schlafen soll es in seinem Bettchen. Ganz in rosa lag es da, liegt es da,
mein Kindchen. Mit rosa Wangen und rosa Strampler im rosa Bettchen. Ich habe ihm das Bettchen neben mein Bett gestellt und alles ganz schön gemacht für mein Kindchen, denn ich will ja, dass es
ihm gut geht, weil ich es doch so lieb habe, mein Kindchen.
Schon als ich den blauen Strich auf dem Test gesehen habe, da gab es mein Kindchen ja noch gar nicht richtig, aber schon da hatte ich es lieb und später hat es mich dick gemacht, mein Kindchen,
ja, hat mich richtig dick gemacht, den Bauch und die Brüste, aber ich habe es trotzdem lieb gehabt und als es dann auf der Welt war - da ja sowieso. Ich habe mein Kindchen so lieb wie nichts
anderes auf der Welt.
Und ich will, dass der Günter das Kindchen auch lieb hat, mein Kindchen, unser Kindchen.
„Ist es meins?“, hat er gefragt.
Und ich hab gesagt, „Ich glaub schon“, hab ich gesagt. Ich meine, was hätte ich sonst sagen können? Ich will, dass der Günter bleibt, weil ich den Günter so lieb habe. Und nochmal würde ich das
nicht verkraften. Der Dennis ist ja gegangen und davor schon der Bernd. Sie sind gegangen, und ich war so allein. Am Anfang habe ich gedacht, dass wenn der Günter geht, ich dann wenigstens das
Kindchen habe und nicht mehr alleine bin. Aber alleine mit dem Kindchen würde ich es nicht schaffen, das würde mich ganz verrückt machen. Ich will, dass der Günter bleibt, damit wir eine Familie
sind. Der Günter und ich und unser Kindchen.
Zuerst ist der Dennis wieder zurück gekommen, nur zwei oder drei Mal, aber da habe ich den Günter schon gekannt. Das hat mich damals total durcheinander gebracht, aber dann kam der blaue Strich
auf dem Test, und ich habe dem Dennis gesagt, dass er jetzt wirklich nicht mehr kommen kann, wirklich nicht mehr, weil die Dinge jetzt klar sind. Einmal hat er es noch versucht, aber da war der
Günter auch da und ist wahnsinnig wütend geworden auf den Dennis und auf mich. Und ich habe gesagt, nein geschworen habe ich, dass ich doch nichts dafür kann, wenn der Dennis trotzdem
kommt.
„Komm nicht mehr!“, habe ich ihm gesagt, aber der Dennis stand einfach vor der Tür und der Günter war fuchsteufelswütend. Und ich habe später die Scherben vom Spiegel im Flur zusammengefegt. Das
macht einen wahnsinnigen Krach, wenn so ein Spiegel kaputt geht und die Scherben auf den Boden fallen. Das klirrt und klirrt. Da ist das Kindchen in meinem Bauch erschrocken und hat ganz
doll gestrampelt, ja strampelt immer ganz doll. Danach ist der Dennis nicht mehr gekommen, zum Glück. Aber der Günter hat mich lange nicht angeschaut, hat fast kein Wort gesagt, und das hat mich
total fertig gemacht. Plötzlich habe ich Angst bekommen, dass der Günter vielleicht doch nicht mehr kommt, wenn das Kindchen aussieht wie der Dennis. Hat es ja dann nicht, zum Glück. Aber die
Angst, dass der Günter vielleicht geht, die Angst ist immer noch geblieben.
Der Kreis da unten auf der Mauer erinnert mich an den Mond. Ich kann den Himmel von hier aus nicht sehen. Aber das ist nicht schlimm, weil ich ja die Mauer sehe, und der Kreis auf der Mauer ist
so groß und schön wie der Mond. Vielleicht hat der, der den Kreis auf die Mauer gemalt hat, ja auch an den Mond gedacht. Mit meinem Kindchen hab ich oft den Mond angeschaut, hab immer gesagt,
„Schau mal, da oben ist der Mond, siehst du?“ Und mein Kindchen hat gelacht, so süß gelacht mit dem kleinen Mund und gegluckst hat es. Ich singe meinem Kindchen jeden Abend ein Lied vor.
Die Mutter schüttelts' Bäumelein/ Da fällt herab ein Träumelein.
Und mein Kindchen schlief ganz schnell ein. Der Günter war dann immer froh. Der Günter mag es gar nicht, wenn das Kindchen weint. Er hat dann immer geschrien, dass ich was machen soll, weil ihn
das Geflenne ganz verrückt macht. Und mich hat das Weinen auch ganz verrückt gemacht und dem Günter seine Schreierei noch dazu.
„Mach was, jetzt mach was, verdammt! Mach, dass es aufhört!“, hat der Günter geschrien. Und ich habe das Kindchen aus dem rosa Bettchen geholt und hab es im Zimmer hin und her getragen, konnte ja
nicht in der Wohnung rumlaufen, weil der Günter da war und der wollte nicht, dass das Kindchen im Wohnzimmer schreit, wo er Fernsehen schaut. Bin also immer am Bett vorbei und zum Schrank und
wieder zurück zu dem rosa Bettchen, vier, fünf Schritte hin und vier, fünf Schritte zurück. Habe das Kindchen in meinem Arm gewiegt.
„Sei still Kindchen, sei still. Nicht weinen, aufhören, psssst, psssstttt!“
Das Kindchen wollte nicht aufhören, hat geweint und nicht aufgehört. Und der Günter hat im Wohnzimmer rumgeschrien, richtig gebrüllt hat der. Und dann kam er ins Schlafzimmer, stand da plötzlich
riesengroß im Türrahmen und hat gesagt, dass er jetzt geht, dass ihn das Geflenne fertig macht und dass er noch nicht weiß, ob er wieder kommt. Und mich hat das Weinen von meinem Kindchen auch
ganz fertig gemacht und der Günter noch dazu.
Und ich habe das Kindchen in das rosa Bettchen gelegt und bin hinter dem Günter her.
„Ich habe dich doch so lieb“, habe ich dem Günter gesagt und „Du musst bleiben! Wie soll ich es ohne dich schaffen?“ Und ich habe gesagt, dass das Kindchen gleich wieder einschläft und still ist,
dass es ganz sicher gleich wieder still ist. Richtig gebettelt habe ich. Der Dennis war ja gegangen und davor der Bernd und nochmal könnte ich das nicht verkraften.
„Na gut“, hat der Günter gesagt, er würde mir fünf Minuten geben, aber wirklich nicht mehr, weil er jetzt wirklich fertig ist mit den Nerven. Und aus dem Schlafzimmer schrie das Kindchen,
wimmerte, weinte und schrie ganz laut. Ich bin zurück und habe ihm vorgesungen, habe mein Kindchen auf den Arm genommen und gesungen und habe es ein bisschen geschüttelt, weil es doch endlich
ruhig sein sollte, still sollte es sein. Dann habe ich ihm den Mund zugehalten, habe meine Hand auf den kleinen Mund gedrückt, nur ganz kurz und dann war es endlich still, zum Glück, und hat
friedlich geschlafen. Aber der Günter ist dann doch gegangen, hat die Augen groß aufgerissen und sich die Hand vor den Mund gehalten, so wie ich dem Kindchen die Hand vor den Mund gehalten habe.
Dann kamen Polizisten. Sie haben etwas zu mir gesagt, haben mich am Arm gepackt und aus der Wohnung gezogen, aber ich habe ihnen gar nicht zugehört, wollte nur zu meinem Kindchen, das im rosa
Bettchen geschlafen hat. Mein Kindchen kann doch mit dem Günter nicht alleine bleiben, weil es sicher schreit, wenn es wieder wach wird und ich dann nicht da bin und dann schreit der Günter doch
auch. Aber jetzt ist der Günter auch weg. Zuerst der Bernd, dann der Dennis und jetzt der Günter. Alle weg.
Ich schaue immer auf die Mauer und denke an den Mond und singe mein Kindchen in den Schlaf, wiege es auf meinem Arm und singe, damit es was Schönes träumt.
Schlaf, Kindlein, schlaf,
Und blök nicht wie ein Schaf,
Sonst kommt des Schäfers Hündelein,
Und beißt mein böses Kindelein,
Schlaf, Kindlein, schlaf.