Alexander Uhlmann

LUDEAU

 

Ludeau zog die Tür hinter sich zu und schloss gewissenhaft ab. Man konnte nie wissen, wer sich Zutritt zum Haus verschaffen und in die Wohnung eindringen konnte, wenn man die Tür nicht gut verschloss.

Beim Heruntersteigen der Treppe begegnete er Madame Barsin, der Concierge, und grüßte artig.

„Bonjour, Madame.“

„Bonjour, Ludeau.“

Madame Barsin, die Concierge, war eine von der seltenen angenehmen Sorte. Die meisten Concierges waren blasse teigige Frauen mit viel zu viel Langeweile und zu wenig Respekt vor den Bewohnern des Hauses, Madame Barsin war jedoch schlank und gar nicht blass, außerdem war sie sehr freundlich. Ihre Tochter, Sandrine, mochte Ludeau aber gar nicht. Sie war etwa ebenso alt wie er, sprang manchmal Seil im Hausflur und ließ dabei ihre Zöpfe albern fliegen. Und wenn sie auf Ludeaus Eltern traf, sagte sie immer: „Bonjour, Monsieur Nichet, bonjour, Madame Nichet, salut, Ludeau.“ Sie tat es ihrer Mutter immer genau nach, das fand Ludeau entsetzlich albern. Als sie ihn einmal fragte, ob er mit ihr spielen wolle, drehte er sich einfach um und ging.

Madame Barsin stieg mit ihrem Besen weiter nach oben.

Ludeau ging zur Bäckerei in der Rue Châteauneuf. Er kaufte ein Baguette, legte die abgezählten Münzen auf den Tresen und ging wieder zurück nach Hause. Er hoffte, nicht wieder der Concierge zu begegnen. Wenn er jemanden an einem Tag mehrmals traf, wusste er nicht, wie man zu grüßen hatte. Erneut „Bonjour“ zu sagen, kam ihm albern vor, gar nichts zu sagen war sicherlich auch nicht richtig. Manchmal lächelte er nur schief und hoffte, dass die Erwachsenen damit zufrieden waren.

In der Küche schnitt er das Baguette in zwei gleich große Stücke, dann teilte er eines davon der Länge nach. Er bestrich beide Viertel mit Butter und anschließend großzügig mit Mirabellenkonfitüre. Er aß mit viel Appetit und trank ein großes Glas Limonade hinterher. Als er damit fertig war, setzte er sich mit einigen Comicheften auf den Balkon, der halb unter der Schnellstraße lag, aber am Morgen noch etwas Sonne bekam.

 

Um genau elf Uhr klingelte es an der Tür. Ludeau öffnete mit der Kette vorgelegt, damit ein eventueller Einbrecher nicht einfach hineinkonnte. Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, stand vor der Tür.

„Bonjour, Ludeau, sind deine Eltern zu Hause? Ich habe sie einige Tage nicht gesehen und habe eine Angelegenheit mit ihnen zu besprechen.“

„Ja, sie sind da, aber sie sind krank und schlafen“, antwortete Ludeau und wollte die Tür schließen.

„Ach, sie haben sich bei dem feuchten Wetter wohl erkältet?“ fragte Madame Déroulède, die Nachbarin von oben.

„Ja“, sagte Ludeau.

„Aber dann bist du ja ganz auf dich gestellt, mon p‘tit. Soll ich dir etwas zu essen kochen?“

„Nein, danke, ich finde mich schon zurecht. Maman hat ausreichend Essen eingefroren und dann gibt es ja noch Picard die Straße hinunter. Ich kann gefrorenes Essen auftauen.“

„Ist das nicht viel zu gefährlich für einen kleinen Jungen?“

„Ich bin schon dreizehn, Madame.“

Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, nickte, verabschiedete sich und ging die Treppe hoch. Ludeau sah ihr hinterher und schloss die Tür, als er ihre zufallen hörte.

Eine Stunde später klingelte es erneut, es war wieder Madame Déroulède, die Nachbarin von oben. Sie trug eine kleine emaillierte Cocotte mit Deckel. Ein intensiver Geruch nach Karotten entströmte ihr.

„Ich habe eine Suppe gekocht, damit deine Eltern schnell gesund werden. Eigentlich hilft Hühnersuppe am besten, aber ich habe gerade zufällig kein Huhn im Haus, da habe ich eine kräftige Gemüsesuppe gekocht.“

Sie reichte Ludeau die Cocotte, sie passte jedoch nicht durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen, den die Kette zuließ, also schloss Ludeau die Tür, enthakte die Kette und öffnete erneut. Er nahm die Cocotte entgegen und bedankte sich bei Madame, dann verabschiedete sie sich wieder. Dieses Mal schloss er die Tür sofort.

Die Cocotte war warm, nicht zu warm, und orange. Eine ekelhafte Farbe, fand Ludeau. Sie erinnerte ihn an sein Erbrochenes, wenn er mal krank war. Er stellte sie in die Küche. Vielleicht würde er die Suppe am Abend essen. Jetzt schnitt er das übrige Baguette in zwei Hälften, bestrich sie mit Butter und anschließend großzügig mit Mirabellenkonfitüre. Er aß mit viel Appetit und trank ein großes Glas Limonade hinterher. Die Limonade war nun alle. Als Ludeau den Umstand bemerkte, nahm er Geld aus der Dose neben dem Fernseher im Wohnzimmer und verließ die Wohnung. Er zog die Tür hinter sich zu und schloss gewissenhaft ab, wegen der Einbrecher.

Im Erdgeschoss wischte Madame Barsin, die Concierge, gerade den Boden.

„Pardon, Madame“, sagte Ludeau und war froh, etwas sagen zu können.

„Das macht nichts, geh einfach drüber“, sagte Madame Barsin, die Concierge, und lächelte.

Ludeau lief auf Zehenspitzen über den feuchten Boden und raus auf die Straße.

Auf dem Boulevard Gambetta gab es einen kleinen Supermarkt, dort kaufte er Limonade, legte die abgezählten Münzen auf den Tresen und ging. Weil er aber keinesfalls schon wieder auf Madame Barsin, die Concierge, treffen wollte, ging er nicht direkt zurück nach Hause, sondern lief den Boulevard hinauf bis zur Rue Trachel, bog links in die Avenue Gay ab und lief bis zum Palladium. Dort stand er für eine Minute vor der Pallasstatue und ging dann am Waschsalon vorbei zurück zu seinem Haus. In der Zwischenzeit musste Madame Barsin, die Concierge, fertig gewischt haben.

Der Boden war noch feucht, aber Ludeau war allein, niemand zu sehen. Er schlüpfte ins Haus, kontrollierte rasch den Briefkasten, der außer etwas Reklame nichts enthielt, und stieg dann hinauf in die Wohnung. Als er gerade den Schlüssel ins Schloss steckte, kam Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, herunter.

„Ach, Ludeau, hat deinen Eltern die Suppe geschmeckt?“ fragte Madame.

„Ja, sie war sehr gut, sie danken Ihnen auch recht schön.“

„Du kümmerst dich wohl um deine Eltern, was?“

„Viel kann ich nicht tun.“

Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, wollte Ludeau den Kopf tätscheln, er wich ihr aber aus und schloss rasch die Tür auf.

„Auf Wiedersehen, Madame“, sagte er und schloss die Tür.

Ludeau mochte es gar nicht gern, angefasst zu werden, besonders nicht von fremden Leuten. Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, versuchte es aber immer wieder, man musste auf der Hut sein, ihrer flinken Hand mit den rot lackierten Nägeln zu entkommen.

Ludeau bemerkte, dass die Luft in der Wohnung schlecht war. Er stellte die Flasche Limonade in die Küche, bevor er ins Schlafzimmer seiner Eltern ging. Hier war die Luft besonders schlecht. Er wollte das Fenster öffnen, ging am Bett der Eltern vorbei, wo sie nebeneinander lagen, entschied sich dann aber dagegen und zog nur die Vorhänge zu. Dann verließ er das Zimmer und öffnete im Wohnzimmer die Balkontür.

 

Halb sechs begann er, das Geschirr zu spülen. Es gab zwar eine Spülmaschine, doch wusste Ludeau nicht, wie sie zu bedienen war, also spülte er mit der Hand. Er ließ heißes Wasser ins Becken laufen, gab Spülmittel dazu und ließ dann noch etwas kaltes Wasser nach, weil es ihm zu heiß war. Zuerst spülte er die zwei Limonadengläser vom selben Tag, dann das vom vorherigen. Anschließend verfuhr er ebenso mit den Tellern, von denen er sein Baguette gegessen hatte, und dem Besteck. Das große Messer, das er einige Tage zuvor benutzt hatte, war sehr hartnäckig verschmutzt und Ludeau nahm einen Stahlschwamm zu Hilfe, mit dem er es schließlich recht leicht reinigen konnte. Er ließ das schmutzig-braune Wasser aus dem Becken, spülte mit frischem nach und setzte sich dann mit der Cocotte von Madame Déroulède, der Nachbarin von oben, vor den Fernseher. Er schaute beim Essen Comicserien, die Suppe war bereits kalt. Das machte nichts, auch wenn Ludeau eine warme Suppe bevorzugt hätte, aber er hatte Angst vor dem Gasherd, seit er einmal versehentlich die Flamme gelöscht hatte und seine Mutter daraufhin hysterisch durch die Wohnung gerannt war.

Die Suppe war gut, für eine Person aber zu viel, so sparte er sich die Hälfte für den folgenden Abend auf. Er trank ein großes Glas Limonade hinterher. Seine Mutter war der Meinung gewesen, er solle nicht so viel Limonade trinken, die wäre schlecht für die Zähne, stattdessen solle er lieber Wasser trinken. Sie hatte sich schließlich geweigert, Limonade zu kaufen. Ludeau hatte daraufhin solange laut geschrien, bis die Nachbarn angelaufen kamen, allen voran Madame Déroulède, die Nachbarin von oben. Da hatte Ludeaus Mutter aufgegeben und ihn weiterhin Limonade trinken lassen. Vor einigen Tagen hatte sie verkündet, ab sofort werde es keine Mirabellenkonfitüre mehr geben, die wäre ebenso schlecht für die Zähne und Ludeau müsse mehr Käse essen. Sein Vater hatte dazu nichts gesagt, nur genickt und streng geguckt.

 

Am nächsten Morgen begegnete Ludeau wieder Madame Barsin, der Concierge.

„Bonjour, Ludeau“, sagte sie, „ich höre, deine Eltern sind krank?“ Es war eine Aussage, hörte sich aber wie eine Frage an. Ludeau mochte es nicht, wenn Leute so etwas taten, eine Aussage ist keine Frage. Sie wollen damit nur Intimitäten erfahren, ohne danach direkt fragen zu müssen, das wäre wohl unhöflich.

„Ja“, sagte Ludeau, „es geht ihnen aber schon viel besser.“

Madame Barsin, die Concierge, nickte, sagte „sehr schön“ und Ludeau lief hinaus. Er ging zur Bäckerei in der Rue Châteauneuf, kaufte ein Baguette, legte die abgezählten Münzen auf den Tresen und ging wieder zurück nach Hause. Er hoffte, nicht wieder der Concierge zu begegnen. Sie war nicht in ihrer Loge und auch nicht davor. Als Ludeau die Tür zur Wohnung aufgeschlossen hatte, stand jedoch Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, hinter ihm.

„Bonjour, Madame“, sagte er.

„Bonjour“, sagte Madame Déroulède, die Nachbarin von oben. „Wie geht es denn deinen Eltern?“

„Schon viel besser, danke“, sagte Ludeau und wollte hineingehen.

Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, schnupperte.

„Was riecht denn so komisch bei euch?“ fragte sie und sah Ludeau seltsam an.

„Es muss mal wieder gelüftet werden“, sagte Ludeau.

„Lass mich doch mal sehen“, sagte Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, und stieß die Tür auf. Kräftigen Schrittes betrat sie die Wohnung und steuerte auf das Schlafzimmer der Eltern zu. Ludeau stand an der Tür, schloss sie, wegen der Einbrecher, und ging langsam in die Küche.

Ein schriller Schrei tönte aus dem Schlafzimmer der Eltern, dann rannte Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, aus der Wohnung.

In der Küche schnitt Ludeau das Baguette in zwei gleich große Stücke, dann teilte er eines davon der Länge nach. Er bestrich beide Viertel mit Butter und anschließend großzügig mit Mirabellenkonfitüre. Er aß mit viel Appetit und trank ein großes Glas Limonade hinterher.

Es klingelte.

Ludeau ging zur Tür, hakte die Kette ein, wegen der Einbrecher, und öffnete.

„Bonjour, mein Kleiner, dürfen wir hereinkommen?“ fragte der Polizist.

Ludeau nickte, schloss die Tür, enthakte die Kette und öffnete erneut. Der Polizist, der geklingelt hatte, betrat mit zwei Kollegen die Wohnung. Aus dem Hausflur rief Madame Déroulède, die Nachbarin von oben: „Es ist die zweite Tür rechts, zwei Personen“ und schluchzte. Die Polizisten öffneten die Tür zum Schlafzimmer, hielten sich die Nasen zu und schlossen die Tür wieder. Zwei weitere Kollegen kamen und verschwanden im Schlafzimmer der Eltern.

Madame Barsin, die Concierge, erschien auf dem Absatz, fragte Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, was denn geschehen sei und schluchzte dann genauso, als es ihr erklärt wurde. Sandrine, die Tochter von Madame Barsin, der Concierge, kam die Treppe hoch und wurde von ihrer Mutter verscheucht. Ludeau stand noch immer im Flur neben der Tür. Die Polizisten passten mit ihrer Ausrüstung kaum durch, Madame Déroulède, die Nachbarin von oben, zog ihn beiseite, schluchzte weiter. Er wand sich aus ihren Armen, Ludeau mochte es gar nicht gern, angefasst zu werden, besonders nicht von fremden Leuten.

Er dachte an das Messer und das Schlafzimmer der Eltern, wo überall geronnenes Blut war und wo es stank. Dann dachte er daran, dass er immer Limonade trinken und Mirabellenkonfitüre würde essen können.

Als ihn der Polizist, der geklingelt hatte, an die Hand nahm und die Tür zuzog, schloss Ludeau gewissenhaft ab. Wegen der Einbrecher.


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